Seit einem guten Jahr flippe ich im Deutschunterricht, weil ich hoffe, durch die Auslagerung der Erklärphase mehr Unterrichtszeit zu gewinnen. Kompetent mit Fachbegriffen umzugehen und Arbeitstechniken sicher zu beherrschen, ist der Grundstein für eine intensive Auseinandersetzung, präzise Analyse und nicht zuletzt einen produktiven Umgang mit Sprache und Texten. Dann erst wird es im Deutschunterricht spannend.
Meine Vermutung, die Produktion der Erklärvideos sei beim Flipped Classroom die größte Herausforderung, erwies sich schon nach kurzer Zeit als Irrtum. Wenn man die Erklärphase auslagert und die gewonnene Zeit für individuelle Förderung und Stärkung der Eigenverantwortung nutzen will, stellt das nicht nur den Unterricht auf den Kopf, sondern auch die klassischen Methoden und Werkzeuge in Frage.
Die besondere Herausforderung der Selbstlernphase
Zunächst war ich einfach froh, meinen Schüler*innen, Erklärvideos zur Verfügung stellen zu können. Nachdem mich deren Erstellung eine Menge Zeit gekostet hatte, freute ich mich drauf, im Unterricht zu üben und zu vertiefen und dabei ganz bequem auf das Material, das mir Deutschbuch und zugehöriges Arbeitsheft zur Verfügung stellen, zurückzugreifen.
Tatsächlich bearbeiten auf diese Weise alle Kinder das gleiche Material in ihrem individuellem Lerntempo. Um die Ergebnisse zu kontrollieren oder zu besprechen, müssen aber dann doch alle zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Aufgaben erledigt haben, der Besprechung aufmerksam folgen, die vorgetragene Lösung dabei mit der eigenen vergleichen und ggf. korrigieren. Das klappt vielleicht beim einem Drittel der Lerngruppe.
Gleiches gilt nach meinen Erfahrung für analoges Lösungsmaterial: Kaum ein Kind schafft es nach (!) der Bearbeitung der Aufgabe noch wirklich konzentriert die eigenen Ergebnisse zu überprüfen - zumal die Lösung oftmals komplett, statt kleinschrittig präsentiert wird. Das Vergleichen und Kontrollieren macht keinen Spaß und sorgt, auch wenn man keine Fehler findet, nur für ein geringes Erfolgserlebnis.
Die Alternative ist, dass ich 28 Kindern eine individuelle Rückmeldung gebe und ggf. die Korrektur beobachte. Das schaffe ich nie - zumal ich eigentlich auch bei Fragen während des Arbeitsprozesses unterstützen möchte (und muss).
Der andere Anspruch ans Material
Nach dieser Erfahrung bedeutet Flipped Classroom also nicht zuerst, Erklärvideos bereitzustellen, sondern den Unterricht so zu gestalten, dass die Zeit im Klassenraum tatsächlich als Selbstlernphase genutzt werden kann. Material und Werkzeuge müssen das leisten, was ich nicht leisten kann: jedem ein direktes und persönliches Feedback geben. Ist zur Durchführung der Stunde eigentlich keine Lehrerin notwendig, weil das Material selbst den Arbeitsprozess gestaltet und jedem Rückmeldung gibt, hab ich endlich Zeit, alle Schüler*innen zu unterstützen.
Material zur Gestaltung der Präsenzphase
Entworfen und ausprobiert habe ich also Unterrichtsmaterial für die Jg. 5, welches den Kindern die Möglichkeit gibt, sich selbst zu kontrollieren.
Wenn die Lerngruppe die notwendigen Kompetenzen erworben hat, gibt uns das Gelegenheit für produktiv-kreative Aufgaben und Öffnung des Unterrichts.
Tierische Gedichte (Jg. 5)
Material
Beschreibung
Erklärvideos
1. Erklärvideo: Vers, Strophe, Reim, lyrisches Ich
2. Erklärvideo: Paarreim, Kreuzreim, umarmender Reim, freier Vers
LearningApps
Zum Üben, Vertiefen und Anwenden der vorgestellen formalen Merkmale
Learning Snacks
Für Aufgaben, die eine frei formulierte Lösung erfordern, werden Antwortmöglichkeiten zum Vergleich angeboten.
Audios
Höraufgaben, Zeilenumbrüche gestalten
Video: Gedichtvortrag
Beispiel einer akustischen Interpretation, Gestaltungsmittel erarbeiten
Zusammenstellung aller Aufgaben als QR-Code mit weiteren Aufgabenstellungen zur Bearbeitung im Heft
- Basismaterial
- Fördermaterial (A) für Inklusionsschüler*innen
- Fordermaterial (B/C)
Kreativwerkstatt
vertonen (Audioboom)
verfilmen (Stop-Motion-Videos)
selbst dichten:
- Reimwortfundus
- Bildimpuls
- Reimmaschine
- Chatgedichte
Veröffentlichung der Projektergebnisse im Netz
Erfahrungen im Praxistest
- Das Basismaterial wurde selbstständig von allen Regelschüler*innen in Kleingruppen bearbeitet. (Aktuell gibt es für Schüler*innen kein WLAN, sodass wir den Computerraum nutzten.)
- Das Fördermaterial (A) stand den lernschwachen Inklusionskindern zur Verfügung, welche motiviert mit den LearningApps arbeiteten. Sie präsentierten ihre Ergebnisse ebenfalls engagiert dem Plenum.
- Das Fordermaterial (B/C) diente im Unterricht zur Vertiefung für diejenigen, die im Unterricht besonders schnell oder aus eigenem Antrieb Zuhause gearbeitet hatten.
- Die Motivation der Lerngruppe spiegelte sich auch in der ruhigen und konzentrierten Arbeitsatmosphäre wieder. So fand ich Gelegenheit, Kinder individuell zu unterstützen oder ihnen eine genaue Rückmeldung (und Würdigung) zu ihrer Arbeit zu geben.
- Am Ende jeder Stunde tauschten wir uns im Plenum über die Arbeit aus oder präsentierten Ergebnisse.
- In der Stunde vor der Klassenarbeit wurde im aktiven Plenum das Gelernte zusammengefasst und wiederholt.
- Die Schüler*innen bearbeiteten die Aufgaben motiviert und selbstständig.
- Das Angebot das Fordermaterial (B/C) zur Vorbereitung auf die Klassenarbeit zu nutzen, nahm ein großer Teil der Klasse gerne an.
- Aus den Kreativaufgaben durfte ausgewählt werden. Die Bearbeitung einer Aufgabe war für alle Pflicht.
- Ausblick:
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- Die Klasse entschied sich dafür, an einem Projekttag vor den Ferien gemeinsam StopMotionVideos zu den Gedichten zu gestalten.
- Seit einiger Zeit hat diese Lerngruppe einen Twitteraccount. So entstand die Idee, Ergebnisse der kreativen Arbeit dort zu veröffentlichen. Auf die Reaktion des außerschulischen Umfelds sind alle gespannt.
Resümee
Die Unterrichtsreihe hat allen Beteiligten Spaß gemacht - eine gute Voraussetzung für den Lernerfolg. Die Motivation der Lerngruppe zeigte sich auch in ihrer insgesamt zügigen Arbeit. So blieb uns wertvolle Unterrichtszeit zur kreativ-produktiven Auseinandersetzung. Die Unterrichtsplanung bot mir Gelegenheit, Schüler*innen individuell zu begleiten und unterstützen.
Anmerkung: Als Klassenarbeit wurde der Lerngruppe eine Aufgabenstellung präsentiert, die ich einige Jahre zuvor schon einmal gestellt hatte. Im Klassendurchschnitt ergab sich ein besseres Ergebnis. (Die Aussagekraft dieses Vergleichs ist gering - trotzdem freut 's mich.)
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