Der Unterricht steht Kopf - Gedanken zum DeutschFlip

Die Flipped Classroom Idee, Lerninhalte als Video zur Verfügung zu stellen und die gemeinsame Zeit im „Klassenraum“ für Praxis und Anwendung zu nutzen, klingt interessant. Eignet sich das Konzept auch für das Fach Deutsch? Wie, wann und warum ich Erklärvideos  einsetze, möchte ich hier vorstellen.  


Die Erklärung des Flipped Classrooms als „umgedrehter Unterricht“ reduziert die Methode scheinbar auf die Erarbeitung des Unterrichtsstoffs als Hausaufgabe und die Übung/Sicherung in der Präsenzphase. 

 

Deshalb gefällt mir die Beschreibung „Unterricht auf den Kopf stellen“ viel besser. "Auf den Kopf stellen“ meint „völlig verändern“, „umkrempeln“, „durcheinanderbringen“ oder „gründlich durchsuchen“. Das passt gut zu dem, was beim Flipped Classroom passieren kann. Das Konzept verstehe ich als eine Möglichkeit Gestaltungsspielräume zu schaffen und anderen Methoden die Tür in den Unterricht zu öffnen. Gehen Flipped Classroom und Methodenvielfalt Hand in Hand, kann sich Unterricht tatsächlich verändern. 

 

Die "breite Palette unterschiedlicher Unterrichtsformen", welche der Kernlehrplan Deutsch (G8) NRW fordert, kommt im Unterrichtsalltag oft genug zu kurz. Der Einsatz von Erklärvideos kann die "lehrerbezogene Wissensvermittlung" auslagern und der "selbstständigen Erarbeitung neuer Inhalte" (vgl. Kernlehrplan Deutsch (G8) NRW) mehr Raum geben.  

 

Begriffserweiterung

Erkärvideos setze ich entweder als Hausaufgabe zur Vorbereitung des Unterrichts, zur Unterstützung der Schüler*innen bei der selbstständigen Wiederholung bzw. Erarbeitung des Stoffs oder zur Sicherung der Ergebnisse aus dem Unterricht ein. Begrifflich ließe sich das als Wechselspiel zwischen Half-Flip, Flip und inClass-Flip umschreiben.

Ob ein Einsatz von Lernvideos, der sich nicht an der klassischen Einteilung Hausaufgabe - Präsenzphase, sondern an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert, als Flipped Classroom bezeichnet werden kann, habe ich mich immer wieder gefragt. Stefan Schmidt hat dazu jetzt eine wunderbare Erweiterung der Definition ins Spiel gebracht: 

  

"Die Ursprungsidee war, dass der Stoff den Schüler via Videoclips vermittelt wird und das Üben in der Schule stattfindet. Heute versteht man darunter generell die Einbeziehung digitaler Medien." (Stefan Schmidt, https://kurier.at/wissen/schule-2-0-digitale-grundbildung-wird-zum-unterrichtsfach/284.390.378 abgerufen am 5.09.2017)

 

Was eignet sich für den Deutsch-Flip?

Zur Aneignung höherer Kompetenzen des Faches Deutsch bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema, sprachlicher Interaktion und der Analyse von Sprache in unterschiedlichen Kontexten. Das methodische Instrumentarium des Faches, die erforderlichen Kenntnisse, Strategien und Arbeitstechniken lassen sich in digitalen Lerneinheiten wie Erklärvideos zur Verfügung stellen. Nach der Lernzieltaxonomie Blooms als höherwertig eingestufte Lehr-/Lernziele wie Textanalyse, Literaturverständnis oder kreativ-produktives sprachliches Handeln erfordern hingegen eine individuelle, tiefergehende Auseinandersetzung, die zeitliche und gestalterische Freiräume benötigt. Daher erlebe ich beispielsweise die Vermittlung von

  • Methoden der Textplanung,
  • Techniken der Texterarbeitung,
  • Erzähltechniken,
  • sprachlichen Gestaltungsmitteln,
  • Möglichkeiten der Textbeschreibung,
  • Fachbegriffen oder
  • Regelwissen (Rechtschreibung/Grammatik) 

durch Erklärvideos als sinnvoll.


Freiräume schaffen! 

Meinen Flip möchte ich frei gestalten. Es gibt also kein "Rezept" nach dem ich vorgehe. Was ich hier skizziere, sind mögliche Wege, denn einen Weg, der auf alle Lerninhalte und Lerngruppen passt, gibt es vermutlich nicht.  

Einstieg in die Stunde

Hat die Lerngruppe die gemeinsame Aufgabe ein Erklärvideo zu erarbeiten, sind verschiedene Stundeneinstiege möglich: 

  • Klärung der Fragen, die sich die Schüler*innen ggf. notiert haben, im Unterrichtsgespräch nach der "Think-Pair-Share" Methode.
  • Gemeinsamer Einstieg ins Thema durch praktische Anwendung des im Erklärvideo vermittelten Inhalts und/oder Besprechung der begleitenden Aufgaben.

Möglich ist auch eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema über ein Quiz.

  • Plickers: Die spielerische Abfrage liefert eine differenzierte Rückmeldung darüber, wer den Unterrichtsstoff verstanden hat und wer noch Unterstützung braucht. Meine Erfahrung: Lieber kurz und knapp, dafür öfter mal.

  • Jede Plickers-Aufgabe endet erst mit der Erläuterung der Antwort durch eine(n) Schüler*in oder mit der Diskussion der Frage durch die Lerngruppe.
  • Plickers aktiviert alle Lernenden, lässt zeitlich Raum für gemeinsame Überlegungen oder Diskussionen und unterstützt eine breite Teilnahme am Unterrichtsgespräch.

Übungsphase

Anfangs erwartete ich, dass mir durch die Auslagerung der Erklärphase mehr Zeit zur Verfügung stünde, Lernende beim Erarbeiten zu begleiten. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass gleichzeitig die Nachfrage nach individueller Betreuung (besonders in den unteren Jahrgangsstufen) deutlich steigt. Durch den Flip hole ich mir sämtliche Fragen, die bei  Schüler*innen möglicherweise durch Hausaufgabe aufgeworfen werden, in den Klassenraum. Knapp 30 Lernende, arbeiten jetzt allein oder gemeinsam und wünschen sich in der Stunde regelmäßig und zeitnah Feedback, Unterstützung oder Begleitung. Das ist eine größere Herausforderung als jede lehrerzentrierte Methode der Wissensvermittlung. 

 

Will ich also die Unterrichtszeit sinnvoll nutzen, musst ich diese Phase der Anwendung und Erprobung des Unterrichtsstoffes verändern. Unterstützend wirken 

  • ein Expertensystem: Schüler*innen, die sich in einem Themenbereich besonders gut auskennen, werden (nach Absprache) auf einer ausgehängten Liste im Klassenraum eingetragen und können als Experten anderen Mitschüler*innen bei Bedarf helfen.  Das ist praktisch eine Minimalform des "Lernen durch Lehrens". Diese Hilfe kann von mir durch eine "Gut gemacht!" Notiz honoriert werden. 

  • digitale Tools: Je nach Aufgabenstellung eigenen sich auch verschiedene digitale Tools wie z. B. QR-Codes, LearningApps oder LearningSnacks für eine einfache und schnelle Rückmeldung. 
    • Besonders gefällt mir der Einsatz von LearningSnacks zum Vergleich von Arbeitsergebnissen oder als Unterstützung einer Arbeitstechnik. Im Gegensatz zum  Arbeitsheft können Lösungen hier Stück für Stück präsentiert und Lernende so zur sorgfältigen Selbstkontrolle angehalten werden. Zusätzliche kleine Aufgaben lenken die Aufmerksamkeit auf besondere Schwierigkeiten.
  • klassische Möglichkeiten der Selbstkontrolle wie z. B. Lösungsvorschläge im Arbeitsheft. 

Frei gemixt: Flip, Half-Flip und inClass-Flip

Wenn jede/r Lernende die Videos im eigenen Tempo erarbeitet, sollte konsequenterweise auch im Unterricht eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff möglich sein. 

Vorgegebene Phasen, wie das Besprechung von Aufgaben, wieder gleichzuschalten, ist deshalb manchmal schwierig. So ergibt es sich von selbst, dass die Schüler*innen auch weitere Arbeitsschritte dann gehen, wenn sie soweit sind. Ein Teil der Lerngruppe kann ein fortführendes Video also schon in der Unterrichtsstunde erarbeiten, während eine andere Gruppe einfach mehr Zeit und Begleitung benötigt und das nächste Video deshalb erst zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff nimmt.

Damit bleibt mir als Lehrerin die Freiheit aus der Situation der Lerngruppe heraus und nicht nach dem Diktat der Unterrichtsorganisation zu entscheiden, welche Phasen wir gemeinsam gestalten. 

 

Lern- und Projektphase

Der wichtigste Teil des Deutschunterrichts findet statt, wenn das Grundwissen sitzt. Im Idealfall endet eine Unterrichtsreihe mit einem Projekt der Schüler*innen. 

 

Wo liegt beim Flipped Classroom die Herausforderung für die Lernenden?

  • Schüler*innen assoziieren mit Filmen Entspannung und Unterhaltung. Das kann man immer wieder beobachten, wenn sie im Unterricht die begleitende Aufgabe zum Film überrascht zur Kenntnis nehmen. Als Lernmedium müssen sie Filme erst kennenlernen. Von dem erfahrenen Kollegen Sebastian Stoll habe ich deshalb die "Papierflieger" Methode zur Einführung des Flipped Classrooms übernommen. Anhand des praktischen Beispiels erfahren die Kinder, wie sie sich ein Erklärvideo erarbeiten können.

  • Obwohl die Arbeit mit digitalen Tool sehr motivierend wirkt, ist es für viele Kinder eine Herausforderung, selbstständig zu arbeiten, eigenen Unterstützungsbedarf zu erkennen und einzufordern, Ergebnisse ehrlich zu kontrollieren und so den Erarbeitungsprozess diszipliniert zu gestalten. Daher ist eine besonders aufmerksame individuelle Begleitung wichtig.

Warum bringt Flipped Classroom den Unterricht durcheinander?

  • Lernende übernehmen in den FC Phasen Verantwortung für ihr eigenes Lernen. Ihre Unterrichtsaktivität steigt.
  • Lehrende erhalten Gelegenheit zur Begleitung und Unterstützung der Schüler*innen.
  • Das Helfer-System wirkt gemeinschaftsbildend und unterstützt damit eine lernförderliche Unterrichtsatmosphäre.
  • Verfügt die Lerngruppe über das Grundlagenwissen, kann in den geschaffenen zeitlichen Freiräumen das Wissens kreativ-produktiv genutzt und verfestigt werden.
  • Insgesamt nimmt die Interaktion zwischen Lehrer*in und Schüler*innen ebenso wie die zwischen Schüler*innen zu.
  • Individuelle Unterstützung, persönliche Gespräche und die Motivation der Lernenden durch Projekte verändern die Lehrer*in - Schüler*innen Beziehung. Die klassische Hierarchie wird zumindest reduziert. 

Wie sehr man den Unterricht umkrempelt, hängt natürlich immer von den Vorstellungen der eigenen Lehrerrolle  und den Rahmenbedingungen ab. 

 

Gestaltungsspielräume gewinnen!

Wichtige Kompetenzen des Deutschunterrichts können m. E. n. nicht durch Erklärvideos vermittelt werden. Zur Aneignung bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff, der sprachlichen Interaktion der Gruppe und der Analyse von Sprache in unterschiedlichsten Kontexten. In der praktischen Sprachanwendung und -begegnung erwerben Schüler Fähigkeiten und Fertigkeiten.


Natürlich bin ich Deutschlehrerin, weil mir das Fach einfach Spaß macht. Darüber hinaus ist Sprache für mich aber vor allem das, was Wilhelm von Humbold als "Schlüssel zur Welt" bezeichnet. Um meinen Schüler*innen dies erfahren zu lassen, braucht man im Deutschunterricht Zeit für selbstgesteuertes Lernen.

 

Der Flipped Classroom ermöglicht diese Gestaltungsspielräume. Deshalb flippe ich, wenn es passt.


Die Bertelsmann Stiftung hat im Juli 2016 den Deutschunterricht besucht und in ihrem Change Magazin darüber berichtet.


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