Im Test: Klassenarbeit mit (fast) realistischem Workflow

Texte verfasse ich digital und greife dabei regelmäßig aufs Internet zu. Meine Schüler*innen verfassen ihre Texte analog und nutzen dabei höchstens (im seltenen Optimalfall) ein Wörterbuch. Für mich wäre schon das analoge, sprich lineare Schreiben eines Textes eine Herausforderung. Müsste ich längere Texte handschriftlich anfertigen, hätte ich vermutlich bald einen Schreibkrampf in der rechten. 

Was in Klassenarbeiten von Jugendlichen erwartet wird, entspricht nicht der Lebensrealität. Wenn man den Gedanken weiterverfolgt, wird der Kontrast noch deutlicher. Wer arbeitet erfolgreicher? Derjenige, der sich mit der Aufgabe im stillen Kämmerchen einschließt oder diejenige, die gemeinsam mit anderen und allen zur Verfügung stehenden Informations- und Arbeitsmitteln nach der optimalen Lösung sucht?


Aktuell ist die Diskrepanz zwischen schulisch praktizierter Leistungsüberprüfung und Lebensrealität nur schwer überbrückbar. Um tatsächlich die für Lernende des 21. Jahrhunderts bedeutsamen vier Kompetenzen in Prüfungsformaten zu fordern, brauchen Klassenarbeiten und Klausuren größere Gestaltungsfreiheit der Lehrenden. Diese dann tatsächlich für innovative Aufgabenformate zu nutzen, ist eine weitere Herausforderung. (Axel Krommer und Christian Albrecht sammeln hier Berichte neuer Prüfungsformate. Ein inspirierender Erfahrungsschatz!)

Mit meinem Deutschkurs der Jahrgangsstufe 7 taste ich mich langsam heran. Seit einem halben Jahr arbeiten alle mit eigenen Geräten. Die technische Ausstattung wirkt. Wenn das Flugzeug vor der Tür steht, ist nicht der Besuch des Nachbardorfs, sondern ein fremder Kontinent unser Ziel. Den Einfluss des Mediums auf die didaktische Zielsetzung, den Axel Krommer betont und welcher von Marc Albrecht-Herrmanns hier so wunderbar visualisiert wurde, darf ich mit meiner Klasse gerade erleben. Sprich, unsere Art der Zusammenarbeit, unser Workflow, unsere Unterrichtsgegenstände und Inhalte verändern sich. Das Tablet ist ständiger und selbstverständlicher Begleiter und wird von den Schüler*innen selbstbestimmt genutzt. Natürlich stecken wir noch in den Anfängen, doch der Aufbruch ist spürbar und macht definitiv neugierig, auf sich ständig neu eröffnende Horizonte. 

Einen vorsichtigen Schritt in Richtung zeitgemäßer Prüfungsbedingungen versuchte ich in der letzten Deutscharbeit. 

Setting

  • Die Schüler*innen führen ihre Hefte analog oder digital. Von den digital-dokumentierenden Jugendlichen werden Pencils oder Tastaturen genutzt. Vorgeschrieben ist in diesem Bereich nichts, die persönliche Vorliebe entscheidet.
  • Unterrichtsgegenstand ist ein Computerspiel, das bisher nicht unter literarischen Aspekten untersucht wurde. In den Weiten des Internets existieren folglich keine Texte, die von den Schüler*innen genutzt werden könnten.
  • Gefordert war die Charakterisierung einer Spielfigur und die Formulierung ihres inneren Monologs - eine klassische Aufgabe im Fach Deutsch. Die Tablets dienten laut Aufgabenstellung nur dazu, die zu untersuchenden Spielsequenzen für alle verfügbar zu machen.
  • Konservativ auch die Textproduktion: analog im Klassenarbeitsheft. 
  • Zur Textsorte "Innerer Monolog" gibt es im Netz unzählige Hilfen, die Aufbau, inhaltliche und sprachliche Merkmale beschreiben.
  • Für Klassenarbeiten sind in der Jahrgangsstufe 7 ein bis zwei Unterrichtsstunden vorgesehen. Aufgrund der zu analysierenden Spielsequenzen plante ich eine 90-minütige Arbeitszeit.

Warum sollten die Tablet-Funktionen für die Überprüfung (nicht) beschränkt werden?

Im vorbereitenden Austausch mit Kolleg*innen gehörte die Möglichkeit des "Abschreibens" zu den ersten und am häufigsten geäußerten Bedenken. Dabei sind, meines Erachtens nach, die Regeln klar: Zitate und inhaltliche Übernahmen müssen als solche gekennzeichnet werden. Wenn Analysen und Informationen im Netz verfügbar sind, sehe ich die größere Herausforderung für Schüler*innen an anderer Stelle:  

  • Zeitmanagement: Vermutlich fällt es schwer, sich nicht in der Recherche zu verlieren, die gefundenen Informationen auszuwerten und zeitliche Ressourcen zum Schreiben des eigenen Textes einzuplanen.
  • Selbst-Denken: Sich von fremden Gedankengängen zu lösen bzw. daraus selbstständig Schlüsse zu ziehen und in eigenen Worten zu formulieren, ist erfahrungsgemäß für Heranwachsende herausfordernd.  

Statt "Copy & Paste" Bedenken beschäftigten mich Überlegungen, wie ich mit kollaborativen Tendenzen ;-)  während der Klassenarbeit umgehen wollte. Einerseits gehört zu einem realistischen Workflow natürlich auch der Austausch mit anderen. Andererseits widerspricht dieser aber der traditionellen Leistungsüberprüfung im Kern. Mein Lösungsansatz ist hier das Kriterium der "Textoriginalität". Vorbereitend thematisierten wir dieses im Unterricht und stellen fest: "Zwei Menschen, die den gleichen Gedanken in Worte fassen, werden dafür immer individuelle Formulierungen finden." Nebenbei spekulierte ich auf den Faktor Zeit: Kollaboration kostet Zeit, die in der Prüfungssituation natürlich begrenzt ist. 

Überhaupt spielt Zeit eine wichtige Rolle. Wer sich mit formalen und methodischen Aspekten auskennt, muss während der Arbeitszeit nicht erst recherchieren. Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aufgabe ein Gewinn. Die Freiheit, die der Internetzugriff während der Klassenarbeit gewährt, wird durch den Zeitfaktor deutlich begrenzt. Scheinbar sah das auch die Mehrheit der Schüler*innen so. Knapp 70 Prozent gaben an, sich genauso intensiv wie üblich auf die Prüfung vorbereitet zu haben.

In der Arbeit sollte also eine klassische Aufgabenstellung unter etwas zeitgemäßeren Bedingungen als üblich gelöst werden. Aus meiner Perspektive gab es keinen Grund, die Funktionen des Tablets für die Arbeitszeit zu beschränken, da ich davon ausgehen konnte, dass die geforderte Einzelleistung nachweisbar sein würde. 

Klassenarbeit mit (Inter)Netz und doppeltem Boden

"Können wir wirklich das Tablet uneingeschränkt nutzen? Ist das diesmal wirklich kein Spicken?"

- Nachdem der letzte Ungläubige überzeugt war, dass tatsächlich keine Funktionen an den Geräten beschränkt waren, konnten wir starten. Die folgenden 90 Minuten kennzeichnete eine ruhige und konzentrierte Prüfungsatmosphäre. Insofern: alles normal, wenn man davon absieht, dass es weniger Fragen zum Arbeitsauftrag und während der Arbeit selbst gab.

Angenehm ungewöhnlich war allerdings die Stimmung im Raum. Obwohl Abschreiben bei Deutscharbeiten sowieso kein großes Thema ist, genoss ich es sehr, nicht ständig kontrollieren zu müssen. Statt systemisch bedingtem Misstrauen spürten sowohl die Schüler*innen als auch ich eine lockere, entspannte Atmosphäre. Das Tablet vermittelte den Lernenden ein Gefühl der Sicherheit. Zur Not durfte man schließlich nachschlagen, was genau einen inneren Monolog kennzeichnete oder wie ein Wort korrekt geschrieben wurde. 

So konnte ich die Zeit zur Beobachtung ihres Arbeitsprozesses nutzen. Im ersten Feedback unmittelbar nach der Arbeit wurden die ungewohnte Situation und die entspannte Atmosphäre besonders hervorgehoben.



Auf Grundlage meiner Beobachtungen während der Arbeit erstellte ich eine Evaluation, die wir in der Folgestunde durchführten. Dabei interessierte mich natürlich besonders, ob und wozu das Tablet genutzt worden war. 

  • Obwohl immer ein Duden im Klassenraum verfügbar ist, der auch bei Klassenarbeiten genutzt werden kann, erinnere ich mich kaum, dass ein*e Schüler*in diesen jemals zu Rate zog. In dieser Arbeit führte immerhin ein Viertel der Jugendlichen eine digitale Rechtschreibkontrolle durch. 
  • Die Chance den eigenen Wortschatz zu erweitern, ergriffen gut 15 Prozent der Lernenden. Dazu suchten sie gezielt entsprechende Internetseiten auf bzw. griffen auf im Unterricht erstelltes Material zurück. Bedingt durch die Aufgabenstellung einer Charakterisierung ging es hier in erster Linie um die Suche nach treffenden Adjektiven. 
  • Auf Informationen zur Gestaltung der Textsorte griff ein knappes Viertel der Schüler*innen während der Arbeit zurück. 
  • Ein Fünftel nutzte den Internetzugriff, um Fakten zum Spiel, wie Erscheinungsjahr oder Produzent zu recherchieren.
  • Unter "sonstiges" wurde "Musik hören" fünfmal und "in die eigenen Aufzeichnungen blicken" zweimal genannt.
  • Nicht genannt wurde ein Austausch mit Mitschüler*innen, der technisch möglich gewesen wäre. 

Ergebnisse

Als Ergebnis der Klassenarbeit unter (fast) zeitgemäßen Bedingungen durfte ich bei der Korrektur viele gelungene Texte lesen. Es gab keine Redundanzen, die eine Einzelleistung in Frage gestellt hätten. Auswirkungen auf Rechtschreibleistungen und sprachlichen Ausdruck waren vereinzelt spürbar. Im Hinblick auf den Notendurchschnitt fiel die Arbeit normal aus.

Fazit

Die Nutzung des Tablets während der Klassenarbeit ist so ungewohnt, dass Schüler*innen die damit verbundenen Chancen für die selbstständige Überarbeitung ihrer Texte kaum ergriffen. Dennoch - wenn ein Viertel der Lernenden die Rechtschreibung selbstständig kontrolliert, ist das im Vergleich zu "normalen" Arbeiten bereits eine deutliche Steigerung. Die Lernenden konnten also Kompetenzen im Bereich der Arbeitstechniken und Methoden in der Prüfungssituation einsetzen und nachweisen (hier: Nachschlagewerke heranziehen und nutzen und die Einhaltung orthografischer und grammatischer Normen kontrollieren).

Entgegen den Erwartungen der Schüler*innen war die Arbeit nicht leichter als gewohnt, denn Selbst-Denken stand im Fokus der Aufgabe. Im Netz verfügbare Informationen konnten maximal als methodische Erinnerung aufgerufen werden. Die inhaltliche Erarbeitung mussten die Jugendlichen eigenständig leisten. 


Die angenehm-entspannte Atmosphäre während der Arbeitsphase hat mich selbst überrascht. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie viele Regeln den Alltag der Schüler*innen und ihre Beziehung zu den Lehrkräften bestimmen. Das Gerät vermittelte den Schüler*innen ein Sicherheitsgefühl, das von Fall zu Fall eine Leistungssteigerung begünstigen kann.  

Um sich dem realistischen Workflow weiter anzunähern, würde ich gerne in naher Zukunft eine Arbeit mithilfe eines Textverarbeitungsprogramms verfassen lassen, um neue Möglichkeiten der Textüberarbeitung zu eröffnen. Dafür benötigen wir allerdings erstmal eine ähnliche technische Ausstattung für alle Mitglieder der Lerngruppe. 

 

Abgesehen von der freien Internetnutzung war die Klassenarbeit konservativ konzipiert. Ein zeitgemäßer Leistungsnachweis müsste die 4K berücksichtigen. Mir ging es zunächst um die Annäherung an einen realistischen Arbeitsprozess, wie wir ihn schließlich auch im Unterricht praktizieren. Für die Lerngruppe und mich war es dennoch ein spannender Schritt, die klassische Prüfungssituation an dieser Stelle aufzubrechen und zu beobachten, welche neuen Möglichkeiten und Herausforderungen sich ergeben und wie sie genutzt werden. Auf diesen Erfahrungen aufbauend, lässt sich der Weg fortsetzen.  

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Kommentare: 2
  • #1

    Sandra (Samstag, 28 September 2019 20:44)

    "Was in Klassenarbeiten von Jugendlichen erwartet wird, entspricht nicht der Lebensrealität. Wenn man den Gedanken weiterverfolgt, wird der Kontrast noch deutlicher. Wer arbeitet erfolgreicher? Derjenige, der sich mit der Aufgabe im stillen Kämmerchen einschließt oder diejenige, die gemeinsam mit anderen und allen zur Verfügung stehenden Informations- und Arbeitsmitteln nach der optimalen Lösung sucht?"

    1. Meiner Meinung nach sollten zunächst graphomotorische Fähigkeiten (dazu zählt auch das Halten eines Stiftes bzw. das Schreiben damit) internalisiert werden, bevor man mit dem Tablet arbeitet.
    2. Du vernachlässigst aktuelle Studien, die nahelegen, dass ein Konsum von Bildschirmmedien, der 30 Minuten täglich übersteigt, Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen zur Folge hat - davor hat auch die ehemalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung hingewiesen. Selbst wenn es sich hierbei lediglich um sehr signifikante Korrelationen handelt, werden solche potenziellen Gefahren in einem derartigen Unterricht komplett ausgeblendet bzw. bagatellisiert.
    3. Es gibt sicherlich Menschen, die im stillen Kämmerchen besonders erfolgreich sind - auch erfolgreicher, als würden sie im Team arbeiten (vgl. Immanuel Kant)
    Viele Grüße!

  • #2

    falk (Mittwoch, 18 März 2020 09:52)

    Im Grunde sehe ich das auch so. Allerdings entwickelt sich das Gehirn des Menschen evolutionär betrachtet immer nur dann, wenn auch die motorischen Fähigkeiten ausgebildet werden. Würde mein ein Gehirn in einer Lösung lebensfähig halten und mit visuellen und auditiven Reizen bespielen, könnte es sich nicht richtig entwickeln, weil die Informationen von den Muskeln fehlen. Daher ist Bewegung, Schulung der Feinmotorik, Tanzen, Springen, Laufen und Klatschen so enorm wichtig für die gesunde Entwicklung unserer Kinder.